Zuerst und zunächst

Manchmal bin ich müde, nach fünfzehn Jahren Arena Literaturbetrieb bin ich manchmal müde. Anders als ich lange dachte, bin ich nicht das Schreiben müde, und auch nicht das Lesen. Nicht so sehr die Bücher, Texte, Worte bin ich müde, sondern das unablässige Ringen und Kämpfen, die immer neuen Versuche, anzudocken, anzukommen.
Als ich Anfang zwanzig war und an ersten Textwerkstätten teilnahm, verriet uns ein Autor eine gute Regel: immer mindestens fünf Texte draußen haben, immer mindestens fünf Texte im Lauf, fünf Texte also, die irgendwo kreisen, irgendwo gelesen und bewertet und begutachtet werden. Für eine Zeitschrift zum Beispiel oder eine Anthologie oder einen Wettbewerb. Die Fünf-Texte-Regel, eine gute Regel, eine ganze Dekade lang eine gute Regel. Durch die Fünf-Texte-Regel ergeben sich pro Jahr etwa vierzig Einsendungen. Etwa vierzig Versuche; vierzig mal Anschreiben formulieren, Lebenslauf aktualisieren, Umschlag und Adresse zusammensuchen, zum Briefkasten laufen; oder vielleicht auch bloß das Ganze ins richtige Word-Format, in die erbetene PDF oder vielleicht auch mal in rtf umwandeln, und auf Senden klicken. Zehn Jahre, das sind etwa dreihundert bis vierhundert Einsendungen.
Und dann das erste Buch. Das erste Buch, denkt man, sollte ja vielleicht sein wie ein Eintrittsticket, wie ein Passierschein, ein Meisterbrief, beglaubigt und belobt: Die kann Texte schreiben. Die kann das. Die hat das schon einmal gemacht und da Geld für bekommen, und Leute haben das gekauft und gelesen, das ist jetzt also ihr Beruf.
Aber in diesem Betrieb, der nicht wirklich einer ist, bringen die guten Regeln einen nur so und so weit. Wer einen Fuß vor den anderen setzt, kommt nicht zwangsläufig von der Stelle. Fünfzehn Jahre später formuliere ich Anschreiben, aktualisiere meinen Lebenslauf, setzte das Ganze ins richtige Word-Format und drücke auf Senden. Im Pandemie-Jahr kehre ich zurück zu alten Mustern und versuche mich einmal mehr an der Fünf-Texte-Regel, aber ich bin es müde, ich bin die guten Regeln müde. Texte schreiben will ich noch immer, aber ich will nicht länger für sie kämpfen müssen, Anschreiben formulieren, Lebensläufe aktualisieren, das richtige Format finden.
Lange Zeit denke ich, Autorin sein heißt, einen Hafen suchen. Immer wieder neue Hafen ansteuern, warten, hoffen, bangen, dass irgendwer sagt: Du bist jetzt angekommen, hier bist du zu Hause. Wir sind deine Leute, haben auf dich gewartet, wo warst du denn so lange? Von Hafen zu Hafen also, und unterwegs gibt es Stürme, und unterwegs wird mein Schiff gekapert, und unterwegs begegne ich Seemonstern und Stromschnellen und Untiefen. Aber solange das Schiff noch Wind in den Segeln hat, geht es zum nächsten Hafen, und vielleicht darf ich dort ein paar Tage anlegen, ein paar Monate vielleicht sogar oder ein Jahr. Ein Zuhause allerdings finde ich auch dort nicht, auch nicht auf dieser Insel. Und wie kann das sein, dass ich so lange brauche, um zu verstehen: Nicht der Hafen ist das Zuhause. Sondern dein Schiff.